Gedenkfeier von ASG und Realschule Waibstadt | Aktuelle Nachrichten und Informationen

Nur hier in der App: Die Ansprache von Bürgermeister Thomas Seidelmann im Wortlaut

Gedenkfeier von ASG und Realschule Waibstadt

Jedes Jahr gedenken Schülerinnen und Schüler der Arbeitsgruppe „Juden im Kraichgau“ an der Realschule Waibstadt gemeinsam mit Schülern unseres Adolf-Schmitthenner-Gymnasiums der in der Nazi-Zeit verfolgten, ausgegrenzten und oft sogar ermordeten jüdischen Menschen. In einer würdevollen Feier, die von den Schülern rund ums Weil-Mausoleum in Waibstadt gestaltet wurde, erinnerten die jungen Menschen am heutigen Freitag in Text- und Liedform an die Taten.

Die Ansprache von Bürgermeister Seidelmann lesen Sie hier im Wortlaut:

„ Liebe Schülerinnen und Schüler, liebes Kollegium, lieber BM-Kollege Joachim Locher, sehr geehrte Damen und Herren,

wir haben uns hier beim Mausoleum versammelt, um an die Verfolgung jüdischer Menschen zu erinnern – Menschen, die wie ihr Träume, Hoffnungen und ein Recht auf Leben hatten.

Heute möchte ich euch zwei Geschichten erzählen. Die erste ist eine, die die Älteren unter uns noch sehr gut kennen, vielleicht aber auch einige von euch. Es ist die von Anne Frank, einem jüdischen Mädchen, das in dieser dunklen Zeit lebte. Sie war etwa so alt wie ihr – ein junges Mädchen mit viel Lebensfreude, das plötzlich in einem Versteck leben musste, nur weil sie Jüdin war.

Anne wurde 1929 in Frankfurt am Main geboren, zog aber 1934 mit ihrer Familie nach Amsterdam, um den Nazis zu entkommen. Doch 1940 marschierten die Deutschen auch in die Niederlande ein, und die Familie Frank war wieder in Gefahr. Sie mussten untertauchen und versteckten sich in einem engen Hinterhaus in Amsterdam. Das Leben im Versteck war schwierig, beengt und voller Angst. Stellt euch vor, nie an die frische Luft zu können, immer leise zu sein, nie das Haus zu verlassen, weil jede Bewegung, jedes Geräusch ihr Leben hätte kosten können.

Anne begann während dieser Zeit, ein Tagebuch zu schreiben. Darin erzählte sie von ihrem Alltag, von ihren Gedanken und von ihrer Sehnsucht nach Freiheit und Normalität. Sie schrieb über ihre Träume, davon, Schriftstellerin zu werden, über die Konflikte im Versteck und auch über ihre erste Verliebtheit. In einem ihrer Einträge schrieb sie: „Ich glaube trotz allem an das Gute im Menschen.“ Stellt euch das vor – ein junges Mädchen, das trotz der Grausamkeiten, die sie erlebte, noch an das Gute glaubte. Ihre Worte sind voller Mut und Menschlichkeit und berühren uns noch heute.

Aber Annes Geschichte nahmt kein glückliches Ende. 1944 wurde das Versteck verraten, und die Familie Frank wurde verhaftet und deportiert. Anne starb wenige Monate später, im Alter von 15 Jahren, im Konzentrationslager Bergen-Belsen – so wie Millionen andere unschuldige Menschen, die allein wegen ihres Glaubens verfolgt und ermordet wurden. Doch Anne hat uns etwas hinterlassen: Ihr Tagebuch, das uns ihre Gedanken und ihre Träume übermittelt. Es ist eine Stimme aus der Vergangenheit, die uns mahnt, das Leid nicht zu vergessen und die Verantwortung anzunehmen, dass so etwas nie wieder geschieht.

Die zweite Geschichte ist die von Viktor Frankl. Frankl war Arzt, Psychiater und ein junger, hoffnungsvoller Wissenschaftler. 1942, mitten im Zweiten Weltkrieg, wurde Viktor Frankl zusammen mit seiner Familie nach Theresienstadt deportiert und schließlich ins berüchtigte Lager Auschwitz. Das Leben dort war eine tägliche Qual – Hunger, Kälte, Gewalt und das ständige Wissen, dass der Tod oft nur einen Atemzug entfernt war. Frankl sah seine Familie und viele Freunde sterben. Er verlor alles, was ihm lieb war. Doch in all dem Elend hielt er an einer Überzeugung fest: dem Glauben an einen inneren Sinn, den niemand, auch nicht die Nationalsozialisten, ihm nehmen konnten.

Frankl überlebte das KZ und beschrieb später, wie er trotz der Grausamkeiten täglich nach einem Sinn suchte, der ihm Kraft gab. Er fand diesen Sinn darin, den anderen Häftlingen beizustehen, ihnen Mut zuzusprechen und ihnen zu helfen, in den schlimmsten Momenten nicht aufzugeben. Er schrieb später: „Alles kann dem Menschen genommen werden, nur eines nicht: die letzte der menschlichen Freiheiten – nämlich die Wahl der eigenen Einstellung zu den Dingen, die einem widerfahren.“ Selbst im tiefsten Leid suchte Frankl also nach etwas, das ihm und anderen Menschen Hoffnung und Mut gab.

Stellt euch vor, was für eine Stärke und innere Überzeugung es brauchte, inmitten der Unmenschlichkeit nicht aufzugeben, sondern am Leben festzuhalten.

Heute, hier oder in eurer Schule, lebt ihr in einer Welt, die so viel freier und friedlicher ist als die Welt, die Frankl erleben musste. Doch seine Botschaft gilt auch für euch. Denn auch ihr habt eine Wahl: die Wahl, alle anderen Menschen mit Respekt und Würde zu begegnen, die Wahl, euch gegen Ungerechtigkeit und Diskriminierung zu stellen. Wenn wir aus Frankls Geschichte etwas lernen, dann ist es, dass niemand das Recht hat, andere Menschen aufgrund ihres Glaubens, ihrer Herkunft oder ihrer Identität zu verurteilen oder zu verfolgen. Denn jeder Mensch verdient Respekt und eine Chance auf ein sinnvolles Leben.

Es ist leicht zu sagen: "Das war damals." Doch auch jetzt erleben wir weltweit Diskriminierung, Hass und Ausgrenzung. Auch heute gibt es Menschen, die aufgrund ihres Glaubens, ihrer Herkunft oder ihrer Hautfarbe verfolgt werden. Deshalb ist es unsere Aufgabe, wachsam zu sein. Wir alle haben die Möglichkeit und die Pflicht, Haltung zu zeigen, wenn wir Unrecht sehen. Auch im Kleinen – in der Schule, im Alltag, auf der Straße. Jede unserer Handlungen zählt.

Ich weiß, dass das Erinnern an diese Zeit schwer ist, und viele von euch fragen sich vielleicht, was es mit euch zu tun hat. Doch genau ihr seid die Generation, die unsere Zukunft gestalten wird. Ihr seid diejenigen, die dafür sorgen können, dass unsere Gesellschaft friedlich und tolerant bleibt – oder es wieder wird, denn die Zeichen stehen nicht so gut aktuell. Indem ihr euch an die Vergangenheit erinnert und daraus lernt, baut ihr ein Fundament für eine bessere Zukunft – eine Zukunft, in der jede und jeder ohne Angst leben kann.

Lasst uns gemeinsam dafür sorgen, dass das Wort "nie wieder" nicht nur eine leere Phrase bleibt. Lasst uns dafür sorgen, dass es zu einem Versprechen wird – einem Versprechen an die, die nicht mehr unter uns sind, und an all jene, die heute und in Zukunft in Frieden leben wollen.

Ich danke euch für euere wundervolle Gedenkfeier hier und dafür, dass ihr bereit seid, Verantwortung zu übernehmen. Erinnern bedeutet, dass das Leben der Verfolgten und ihre Geschichten in uns weiterleben – und dass wir für eine Welt kämpfen, in der alle Menschen gleich sind.“